Cover
Titel
Reinhart Koselleck und das Bild.


Herausgeber
Brandt, Bettina; Hochkirchen, Britta
Anzahl Seiten
246 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

Mit der griffigen Formel „Zeigen heißt Verschweigen“ verwies der 2006 verstorbene Historiker Reinhart Koselleck darauf, dass es in der inneren Logik eines jeden Monuments liege, bestimmte Sachverhalte ein- und andere auszuschließen. Seine Studien zur Transformation des politischen Totenkults im 19. und 20. Jahrhundert standen im Zentrum seiner generellen, philosophisch wie kunsthistorisch beeinflussten Beschäftigung mit Visualität und Bildlichkeit. Dabei interessierte sich in diesem Fall ein Historiker nicht nur für Bilder, Fotografien und Denkmäler als besondere, in der eigenen Zunft lange Zeit vernachlässigte Quellengattungen, sondern bei Koselleck war daran sein Grundverständnis einer auf die „Bedingungen möglicher Geschichten“1 zielenden Historik geknüpft. Bereits in den 1960er-Jahren zeigte sich in seinen Schriften die programmatische Verklammerung von Sprache und Bild, die sich fortan einerseits dem Begriff als Anschauungsrahmen zuwandte, der teleskopartig „die Mehrschichtigkeit von chronologisch aus verschiedenen Zeiten herrührenden Bedeutungen“2 aufzuzeigen erlaube, und die andererseits in der Bildlichkeit einen unverzichtbaren Zugang zur außersprachlichen Dimension von Erfahrungsgeschichte identifizierte. So wie sich in Begriffen die bereits vom Kunsthistoriker Wilhelm Pinder Mitte der 1920er-Jahre konstatierte „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ erkennen lasse, deren „geschichtliche Tiefenlage“3 aber keineswegs mit der Summe ihrer chronologisch geordneten Bedeutungsaufladungen identisch sei, arbeitete Koselleck auch an einer dezidierten, allerdings nicht systematisch entwickelten Theorie historischer Zeiten, mit der er nicht nur begrifflich, sondern später auch visuell die Gleichzeitigkeit der stets aus unterschiedlichen Zeitschichten stammenden Wahrnehmungen und Erkenntnisse konzeptionalisierte.

Über Kosellecks Auseinandersetzung mit „Ikonik und Historik“, auch zu seinem intensiven Austausch unter anderem mit den Kunsthistorikern Max Imdahl, Peter Anselm Riedl und Martin Warnke, ist bereits ausgiebig geforscht und geschrieben worden. In dem von Bettina Brandt und Britta Hochkirchen herausgegebenen Band „Reinhart Koselleck und das Bild“ richtet sich die Aufmerksamkeit nun „insbesondere auf die eigenhändigen Fotografien Kosellecks als Form der Erzeugung und kritischen Reflexion historischer Erkenntnis“ und als „Modus der Annäherung an komplexe Zeitverhältnisse sowie heterogene Sichtweisen von Geschichte“ (S. 15). Der Band rekurriert inhaltlich auf eine von den Herausgeberinnen kuratierte Ausstellung, die sich 2018 in Bielefeld der „bildlichen Dimension von Geschichte und ihrer Erforschung in Kosellecks Werk“ (S. 17) widmete.4 Aus den im Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg verwahrten Teilnachlass Kosellecks mit rund 30.000 Objekten wählten die Kuratorinnen etwa 500 Bilder aus, mit denen sie entlang der Koselleck’schen Schlüsselwörter „Zeitschichten“, „Politische Sinnlichkeit“ und „Erinnerungsschleusen“ „die Standortgebundenheit von sinnlicher Erfahrung und nicht zuletzt historischer Erkenntnis“ (S. 18) visualisierten.

Der Band wiederum dokumentiert in vier Bildsequenzen die insgesamt drei mit Kosellecks Biographie verbundenen Ausstellungsorte. So gibt das Buch zwar Einblick in die jeweilige räumliche Anordnung der Objekte und Bildtafeln, ohne jedoch eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem ausgestellten Fotomaterial zu ermöglichen. Folglich beschränkt sich die konkrete Beschäftigung mit Kosellecks eigenhändigen Aufnahmen weitgehend auf die ersten beiden, von den Herausgeberinnen selbst verfassten Beiträge. Bettina Brandt greift in ihrem Text Kosellecks mehrschichtigen Zeitbegriff auf und will seine Fotopraxis als dessen Experimentierfeld verstanden wissen. Die in Bildern aufgehobene Präsenz verschiedener Zeitebenen wird unter anderem anhand von Aufnahmen der Sonnenuhr an der Pfarrkirche St. Vitus in Heidelberg-Handschuhsheim, des Grabmals des Fürstbischofs Friedrich Christian von Plettenberg im Dom zu Münster sowie der Reiterdenkmäler für Friedrich Wilhelm IV., Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. an der Hohenzollernbrücke in Köln erläutert. Einzelfotografien und Bilderserien dienen dazu, die These zu untermauern, dass „die Bildpräsenz für Koselleck zwei Seiten“ besaß (S. 108): Sie kann zum einen konstruierte Kontinuitäten und Identitäten beglaubigen, ja sogar die Sinne in vielerlei Hinsicht manipulieren; sie hat zum anderen aber auch ein kritisches Potential, das Widersprüche sichtbar macht, also homogenisierte Narrative und Vereinnahmungen aufzubrechen ermöglicht.

An dieses „visuell sich ereignende Zeitparadox“ (Brandt, S. 108) anknüpfend konzentriert sich Britta Hochkirchen in ihrem Beitrag auf „die besondere Rolle des Sehsinns und des Bildes als kritisches Erkenntnisinstrument“ in Kosellecks Historik. Die Erfahrung der Bildwelt, so der Bielefelder Historiker 1998, „ist nicht direkt integrierbar in den Körper, sie erschließt sich nur durch Bewegung, durch Inblicknahme, durch Einstellung auf nah und fern, durch umherschauen, herumgehen und überschauen“.5 Das Auge sei zwar auch verführbar, im Unterschied zu den anderen Sinnen aber auf eine leibliche Distanz zu den Gegenständen der Wahrnehmung angewiesen, was dem Betrachter eine kritische Reflexivität ermögliche. Anhand von Aufnahmen etwa des 1971 eingeweihten Karl-Marx-Denkmals in Chemnitz, einer von Gerhard Marcks 1963 geschaffenen Hengst-Plastik in Aachen und des von Jacques-Louis David stammenden berühmten Napoleon-Gemäldes („Bonaparte beim Überschreiten der Alpen am Großen Sankt Bernhard“) untersucht die Autorin Kosellecks routinierte Praktiken des Ordnens, Vergleichens und Kombinierens, mit denen er oftmals verblüffend simpel die (zu reflektierende) Differenz von Bild- und Wirklichkeitsebenen aufzuzeigen vermochte.

Der Band umfasst neben den genannten Texten der Herausgeberinnen drei weitere Beiträge, die sich nicht mit der Koselleck’schen Fotopraxis beschäftigen, sondern zum einen den Bielefelder Historiker in seinem sowohl allgemein wissenschaftlichen wie auch speziell kunsthistorischen Umfeld verorten (Hubert Locher), zum zweiten sein „Geschichtsdenken zwischen Bild und Text“ als lebenslange Suche nach dem „Unsichtbaren“ (S. 205) interpretieren (Adriana Markantonatos) und schließlich drittens der „durchaus paradoxe[n] Sprachbildlichkeit“ (S. 217) Kosellecks anhand einschlägiger Beispiele wie „Sattel“ und „Schicht“ nachgehen (Helge Jordheim). Alle Autoren und Autorinnen betonen im Einklang mit der dazu bereits vorliegenden Forschung die elementare Bedeutung von Begriff und Bild im Gesamtwerk des Historikers, verweisen damit aber zugleich auf die konzeptionelle Unwucht des Bandes. Die angekündigte Fokussierung auf die eigenhändigen Fotografien Kosellecks wird nicht konsequent umgesetzt, was auch damit zusammenhängen mag, dass deren Aussagekraft begrenzt ist. Das hat weniger mit ihren technischen und fotografischen Unzulänglichkeiten zu tun, zumal unscharfe, verwackelte und fehlbelichtete Aufnahmen in diesem Fall durchaus beabsichtigt sein konnten. Und obgleich einige Bilder in mancherlei Hinsicht ambitioniert sind, bleiben sie fotografisch anspruchslos. Die tausenden von Aufnahmen sind eben nicht mehr als das Resultat einer Bildsuche, die doch überwiegend auf eine profane Sammlung von (historiographisch verwertbarem) Material ausgerichtet war. Daher legte Koselleck auch keinen Wert darauf, ob er selbst mit seiner Minox oder eben andere die gewünschten Objekte ablichteten – Hauptsache, sein Bestand an forschungsrelevanten Bildern insbesondere zur geplanten Geschichte des Reiterdenkmals wuchs und vervollständigte sich über die Jahre. Es wäre daher wünschenswert gewesen, wenn der Band dem in der Einleitung formulierten Anspruch, sich keineswegs nur auf die „illustrative Verdoppelung von aus Schriftquellen gewonnenen Erkenntnisse[n]“ (S. 11) beschränken zu wollen, noch expliziter nachgekommen wäre.

Anmerkungen:
1 Reinhart Koselleck, Historik und Hermeneutik [1986], in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 97–118, Zitat S. 100. Siehe jetzt auch Manfred Hettling / Wolfgang Schieder (Hrsg.), Reinhart Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten, Göttingen 2021.
2 Ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte [1972], in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 107–129, Zitat S. 125.
3 Ebd., S. 125f.
4 Siehe https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/geschichtswissenschaft/forschung/zthf/reinhart-koselleck-bild/ (mit Fotomaterial).
5 Reinhart Koselleck, Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, in: Sabine R. Arnold / Christian Fuhrmeister / Dietmar Schiller (Hrsg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien 1998, S. 25–34, Zitat S. 26.